Unternehmensführer dürfen nicht die Wahrheit sagen - Dr. Kraus & Partner Blog

Die Top-Entscheider in den Unternehmen müssen bei ihren Auftritten stets auch bedenken: Welche Konsequenzen hat es für das Unternehmen, wenn ich dieses oder jenes öffentlich – und sei es nur firmenintern – sage? Das bereitet auch ihnen selbst oft Bauchschmerzen.

Gestern Abend hatte ich mal wieder ein Online-Jour-Fix – andere Berater würden vermutlich eine Online-Coaching-Session sagen – mit dem Vorstandsvorsitzenden eines international agierenden Dienstleistungskonzerns; wie seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie alle zwei Wochen.

Zu einer, wie bei solchen Top-Executives nicht unüblich, fast schon nächtlichen Stunde sprachen wir unter anderem darüber,

  • vor welchen Herausforderungen der CEO und sein Unternehmen in den nächsten Wochen stehen,
  • welche Dilemmata dabei bestehen,
  • welche Interdependenzen bzw. Wechselwirkungen der CEO bei der „Problemlösung“ bedenken muss und
  • wie er die auf dem Weg liegenden Fallstricke umgehen kann.

Corona schlaucht auch die Unternehmensführer

Dabei machte der sonst sehr dynamische und energiegeladene Top-Manager einen eher müden, matten und melancholischen Eindruck. Als ich ihn darauf ansprach, erwiderte er, dass diese „verfluchte Corona-Pandemie “ auch an seiner Substanz nage, denn seit fast einem Jahr fahre er eigentlich nur auf Sicht und müsse permanent überprüfen: Sind wir noch auf dem richtigen Weg oder müssen wir nachjustieren? Das „schlaucht“, gestand er.

Zudem fühle er sich nicht wohl in seiner Haut, betonte der CEO. Auf meine Nachfrage warum, erwiderte er, weil er sich im tagtäglichen Umgang mit seinen Netzwerkpartnern, nicht selten wie ein Heuchler, ja sogar Lügner fühle, denn selbstverständlich erwäge er mit seinen Vorstandskollegen schon seit Monaten viel weitreichendere Kursänderungen als sie offiziell verkünden würden – zum Beispiel

  • den Rückzug aus Geschäftsfeldern,
  • die Schließung von Niederlassungen,
  • die Fusion mit einem Mitbewerber.

Unternehmensführer müssen auch den „Worst Case“ bedenken

Und selbstverständlich spielten sie im Top-Entscheider-Kreis auch solche Szenarien durch wie: Welche Konsequenzen hätte es für unser Unternehmen,

  • wenn das Thema Corona uns noch jahrelang begleitet,
  • wenn sich im Gefolge der Pandemie das Kaufverhalten unserer Kunden radikal verändert oder
  • wenn ein Mitbewerber aufgrund unseres gesunkenen Börsenkurses eine feindliche Übernahme probiert?

Das zu tun und auch die Handlungsoptionen im „Worst Case“ zu ermitteln und zu prüfen, sei schließlich ein Teil ihres Jobs. Offen in der Belegschaft über ihre strategischen Überlegungen sprechen dürften, ja könnten, sie als Top-Manager eines börsennotierten Unternehmen aber nicht. Denn dann wären ihre Gedankenspiele „kursrelevant“ und das Unternehmen müsste auch die Kapitalmärkte hierüber informieren.

Unternehmensführer müssen die Wirkung ihrer Worte bedenken

In einem ähnlichen Dilemma stecken aktuell oder genauer seit fast einem Jahr viele Top-Entscheider – auch von nicht-börsennotierten Unternehmen. Denn auch sie können nicht gleich alles lauthals verkünden, was sie mittel- oder langfristig in Betracht ziehen. Sie müssen stets bedenken: Welche Auswirkungen hätte es auf unsere Beziehung zu unseren Kunden, Lieferanten und Kapitalgebern, wenn sie erfahren würden, dass wir zum Beispiel erwägen, eine Produktlinie einzustellen oder unseren Service auszulagern? Sie müssen sich also aufgrund ihrer Funktion in der Organisation stets auch taktisch verhalten – auch bei der Mitarbeiter-Kommunikation. Das heißt, sogar wenn sie in Mitarbeiterversammlungen oder Führungskräfte-Meetings gezielt gefragt werden „Wie geht es weiter?“, können sie oft nur die halbe Wahrheit (und oft sogar noch weniger) verkünden. Das führt nicht selten dazu, dass sie sich als Person „mies“ fühlen und in innere Gewissenskonflikte geraten.

Im Top-Team über die Dilemmata sprechen

Auf meine Rückfrage „Sprechen Sie mit Ihren Vorstandskollegen und im obersten Führungskreis denn über solche organisationalen und personalen Dilemmata, vor denen sie bei ihrer Arbeit stehen?“, erwiderte der CEO des Dienstleistungsunternehmens: „Über die organisationalen zum Teil ja, über die persönlichen nicht.“

Auf meine Rückfrage „Glauben Sie, dass Ihre Kollegen im Vorstand bzw. Top-Team vor ähnlichen inneren Konflikten stehen?“ erwiderte er: „Selbstverständlich ja.“ Daraufhin riet ich ihm: „Dann sollten Sie mit Ihren Kollegen auch darüber sprechen, denn hieraus erwächst auch ein wechselseitigen Verständnis – unter anderem dafür, warum Sie und Ihre Kollegen in der aktuellen Situation zum Teil nervöser, gereizter und scheinbar aktionistischer als in normalen Zeiten agieren.“

Das leuchtete dem Vorstandsvorsitzenden ein. Der einzige Einwurf, den er noch hatte, war: „Aber das geht doch den Führungskräften auf den uns nachgeordneten Führungsebenen nicht anders. Die stehen im Arbeitsalltag doch auch vor solchen Dilemmata – auch wenn sie einen anderen Verantwortungsbereich haben.“ Dem konnte ich nicht widersprechen.

Aus Verstehen erwächst Verständnis und hieraus Vertrauen

Deshalb kamen wir im weiteren Gespräch überein, dass es wohl sinnvoll sei, wenn alle Führungskräfte top-down bzw. bottom-up regelmäßig mit ihren Mitarbeitern auch darüber sprechen würden, vor welchen Zwickmühlen bzw. Dilemmata sie funktions- oder positionsbedingt bei ihrer Arbeit stehen, denn: Aus dem Wissen und Verstehen erwächst Verständnis und hieraus wiederum Vertrauen. Und Letzteres ist gerade in unsicheren Zeiten bzw. Marktumbruchzeiten extrem wichtig, wenn es darum geht, das Schiff Unternehmen wieder in ruhige Gewässer oder einen sicheren Hafen zu navigieren.

➡️ Falls du dich in einer ähnlichen Situation befindest und einen Sparrings-Partner bzw. Coach benötigst, kontaktiere uns gerne. 

Autor

  • "Georg gestaltet seit mehr als 30 Jahren Change-Prozesse und ist als CEO der Puls von Kraus & Partner. Er ist ein Magnet für inspirierende Menschen und Projekte. Stillstand gibt es nicht in seinem Vokabular."

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