Antworten und Denkanstöße in einem Interview mit unserem Experten Stefan Bald.
Sind selbstorganisierte Teams wirklich die Revolution in der Organisationsentwicklung?
Es ist zumindest in jeder Generation ein spannendes Experiment, in dem ein soziales System viel lernen kann. Der Weg zu einem selbstorganisierten Team ist steinig, wird das Ziel erreicht, sind die Ergebnisse überwältigend. Wenn du das einmal erlebt hast, bist du so fasziniert, dass du dir etwas anderes gar nicht mehr vorstellen kannst.
Meine These lautet: „Eine funktionierende Selbstorganisation ist das Beste, was einem Team passieren kann, wenn man dem Postulat zustimmt, dass der Mensch nach absoluter Selbstbestimmung auch in seinem Lebenssegment Arbeitswelt strebt.“
Kannst du uns ein anschauliches Beispiel aus der Praxis geben? Wie funktioniert ein selbstorganisiertes Team überhaupt?
Nehmen wir als Analogie ein Symphonieorchester, also eine Organisation in der Einzelleistungen miteinander in Takt und Harmonie eine gemeinsame Leistung erbringen. Das Symphonieorchester gibt Konzerte und generiert dadurch Einnahmen, die die Existenzen der Orchester-Mitarbeitenden sichern. Das ist der Geschäftszweck: einen Mehrwert für die Gesellschaft erzeugen, wodurch die Beteiligten ihre Existenz sichern. Selbstorganisiert heißt in diesem Fall, sich ohne Dirigenten und Intendanten zu organisieren, um diesen Geschäftszweck zu erfüllen. Sie wollen also selbst bestimmen und mit ihren Kunden aushandeln, welche Stücke gespielt werden, wie oft, wann und vor allem wie viel geprobt wird. Und auch, ab wann sie bereit sind, aufzutreten.
Klingt machbar! Wie sieht die Realität aus?
In meinem Beispiel ist die erste Herausforderung, dass nicht ein Dirigent oder Intendant anweist, wann was wie zu geschehen hat. An ihrer wird stattdessen ein Klärungsprozess implementiert, bei dem alle Beteiligten miteinander und mit den vermeintlichen Kunden Entscheidungen zur Geschäftszweckerreichung treffen. Ich denke, es ist offensichtlich, dass dieses Vorgehen einige Zeit benötigt. Die Ansage des Dirigenten und Intendanten ist sicherlich schneller umsetzbar. Selbstorganisation benötigt also Zeit.
Die zweite Herausforderung liegt in dem Thema der Verantwortlichkeit. Wer übernimmt zum Beispiel die Verantwortung für mangelnde Leistung und die Nichterreichung der angestrebten Ergebnisse. In einem selbstorganisierten Symphonieorchester kann man ja nicht den Dirigenten oder Intendanten vor die Türe setzen, falls der Erfolg ausbleibt.
In der Konsequenz müssen in unserem Beispiel alle Mitarbeitenden im Orchester bereit sein, die ersten Wochen möglicherweise auf Gehalt zu verzichten. Weil sie eben mehr Zeit für Abstimmungen und Klärungen einplanen müssen. Und sie müssen bereit sein bei einem Misserfolg konsequent in die Mit-Verantwortung genommen zu werden.
Wenn das Experiment des selbstorganisierten Orchesters allerdings zum Erfolg führt, dann erleben die Beteiligten eine maximal gelebte Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Wenn das ihrem Lebensskript entspricht, ist das optimal. Wenn es funktioniert, sie final vom Publikum gefeiert werden, ist es das Schönste und Tollste, was sie persönlich und als Team erleben können. Und wenn sie das hinbekommen, steigert es langfristig gesehen auch die Effizienz. Aber das schaffen nicht viele. In der Realität müssen wir auch akzeptieren, dass das Postulat der Selbstbestimmung nicht zu dem Lebensskript jedes Menschen gehört. Es gibt eben auch Menschen, die durchaus glücklich sind, dass man ihnen sagt, wann sie was wie zu tun haben.
Woran genau scheitern die meisten Experimente der Selbstorganisation?
Wie oben aufgeführt, braucht es Menschen, die nach Selbstbestimmung streben, die bereit sind, sich in mühselige Abstimmungen und Klärung zu begeben und die vor allem auch bereit sind, die Konsequenzen des Scheiterns mitzuverantworten. Die Experimente scheitern letztendlich immer am Menschen, der sich falsch einschätzt oder sich selbst überfordert.
Aber warum ist es, trotz aller Schwierigkeiten dann aktuell ein Trendthema und gefühlt in aller Munde?
Weil es eine absolute Idealvorstellung von fast jedem von uns ist. Weil die Idee einfach fasziniert. Es geht um höchst emotionale Themen wie Selbstentfaltung, Autonomie und Freiheit. Jeder möchte selbst- und nicht fremdbestimmt sein. Aber wenn man nachfragt, wer bereit ist, die Konsequenzen zu tragen, dann bleiben nicht viele übrig.
Wie kann es trotzdem gelingen?
Wenn jeder, wirklich jeder im Team dazu bereit ist. Und eben vor allem bereit ist, die Konsequenzen zu tragen.
Was sind die wichtigsten Spielregeln in einem solchen Team?
Man schlägt in einem selbstorganisierten Team nur Dinge vor, die man selbst bereit ist zu tun. Das ist vielleicht eine der wichtigsten Spielregeln. Darüber hinaus muss man lernen, ohne Hierarchien selbst Prozesse zu steuern, zu delegieren und Aufgaben zu verteilen. Je größer das Team, um so herausfordernder wird es.
Aber fordert gerade die jüngere Generation die Idee der Selbstorganisation nicht ein. Sie strebt doch enorm nach Selbstoptimierung?
Richtig, den jungen Generationen schreibt man das Thema Selbstoptimierung mehr zu als der Generation der Älteren. Wir sollten Selbstoptimierung aber nicht mit Selbstorganisation im Team verwechseln. Selbstoptimierung und Teamoptimierung ist nicht das gleiche! Selbstoptimierer können einem Team sogar auch schaden, weil sie Dysfunktionalität verursachen.
Kannst du für uns einen Ausblick wagen? Wird aus dem Trend, der Idealvorstellung mehr und mehr Realität?
Ich kann nur nochmal zusammenfassen, dass es das Beste ist, was einem Team, das nach Selbstverwirklichung strebt, langfristig passieren kann und gleichzeitig auch die größte Herausforderung, dieses Ziel zu erreichen. In einem Wirtschaftssystem, in der Effektivität und Effizienz in den meisten Unternehmen Priorität haben, sind viele Stakeholder nicht bereit, trotz der positiven Aspekte und Perspektiven, diesen Weg zu gehen, weil es viel Zeit für die Implementierung braucht.
Deshalb experimentieren vor allem Start-ups mit den Vorzügen der Selbstorganisation. Ihr Geschäftszweck ist meistens die Innovation. Dafür braucht es Menschen, die von Neugierde und dem Drang nach Selbstverwirklichung – nicht Selbstoptimierung – getrieben sind.
Ich prognostiziere, dass vor allem in Start-ups weiterhin mit der Selbstorganisation experimentiert wird. Außerdem beobachte ich zunehmend Unternehmen, die ihr wirtschaftliches Streben auch auf Sinnstiftung ausrichten. Auch hier wird zunehmend mit Selbstorganisation experimentiert.
Mein abschließender Tipp für unsere Leser ist also die Ermutigung, sich zunächst selbst zu prüfen, welche Bedeutung die Selbstbestimmung, die Autonomie und Freiheit hat. Dann ist zu reflektieren, welche Konsequenzen ich bereit bin dafür mitzutragen. Wenn im Ergebnis alle Voraussetzungen für ein Experiment in einer selbstorganisierten Organisation gegeben sind, dann findet jeder auch sein Experimentierfeld. Augen auf, auch in der Wirtschaft und in öffentlichen Anstalten gibt es Vielfalt und Experimentierzonen!
Lieben Dank, dass du deine Expertise mit uns geteilt hast, Stefan.
💬 Wenn du zu dem Thema »Selbstorganisierte Teams« Gesprächsbedarf hast, dann melde dich gerne bei uns.